Eine mich faszinierende "Russula-Bildungsabweichung"

Missbildungen und Mutationen an Pilzen können hier vorgestellt werden - Forumsstart 14.03.2009
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Gerd †
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Eine mich faszinierende "Russula-Bildungsabweichung"

Ungelesener Beitrag von Gerd † »

Hallo zusammen,

Heute stelle ich „Russula-Zwillinge“ vor, die mir "Wilhelm Schulz, Duisburg" freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat:
Russula vesca Fbg 10.7.2008-g.jpg
Russula vesca Fbg 10.7.2008-g.jpg (82.54 KiB) 2885 mal betrachtet
Wenn man das Bild betrachtet stellt man fest, dass es sich hier offensichtlich um zwei Fruchtkörper handelt, bei denen die Stiele in der gesamtem Länge und die Hüte auch sehr breit miteinander verwachsen sind.

- Die Schublade, in die man diesen Fruchtkörper nach [1] einordnen kann ist klar „Verbänderung (Fasciation)“ oder „Verwachsungen (Pseudofasciation)“.
---> Diesen Missbildungstyp habe ich bereits HIER näher erläutert.

- Ok, jetzt überlasse ich es erst einmal euch, diesen Fruchtkörper einzuordnen:
(a) Verwachsung (Pseudofasciation), deren Ursache nach [1] bekannt ist
(b) Verbänderung (Fasciation), deren Ursache nach [1] noch unbekannt ist.
----------------------

- Meine Einschätzung/Bewertung dieses Fruchtkörpers bringe in einem Folgebeitrag.

Beste Grüße
Gerd

Literatur:

[1] (ID-05008): Michael - Hennig - Kreisel (1983): Handbuch für Pilzfreunde, Band V, S26:62

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Nachtrag: 10.05.2009 18:40Uhr

"Verwachsungen/Verbänderungen" und deren Ursache wurden bereits HIER vorgestellt.
- Ich mache nur Bestimmungsvorschläge und keine Essensfreigabe.
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Gerd †
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Re: Eine mich faszinierende "Russula-Bildungsabweichung"

Ungelesener Beitrag von Gerd † »

Hallo zusammen,

dann bringe ich jetzt noch meine Einschätzung zu dieser Missbildung, die man salopp als „Zwillinge“ (Doppelfruchtkörper) bezeichnen kann. Eine Schublade habe ich dieser Bildungsabweichung bereits zugewiesen:

[quote=“Gerd“]
Wenn man das Bild betrachtet stellt man fest, dass es sich hier offensichtlich um zwei Fruchtkörper handelt, bei denen die Stiele in der gesamtem Länge und die Hüte auch sehr breit miteinander verwachsen sind.

- Die Schublade, in die man diesen Fruchtkörper nach [1] einordnen kann ist klar „Verbänderung (Fasciation)“ oder „Verwachsungen (Pseudofasciation)“.
---> Diesen Missbildungstyp habe ich bereits HIER näher erläutert.
[/quote]
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- Tja, und schon gibt’s ein Problem, da dieser Fruchtkörper zwischen einer „Verwachsung“ und einer „Verbänderung“ vermittelt und die Zuordnung nicht eindeutig zu sein scheint.

---> Plausibel scheint mir zu sein, dass sich hier 2 extrem nahe beieinander (in der gleichen Ebene) stehende, miteinander verwachsener Fruchtkörperanlagen synchron entwickelt haben.

Ich fasse jetzt zuerst einmal zusammen, was [1] als charakteristische Kennzeichen betont:

(1)Verwachsung (Pseudofasciation)
- Die Ursache für Verwachsungen kann leicht durch „Weiterentwicklung nahe benachbarter, zusammenwachsender Fruchtkörperanlagen (Initialknötchen, Primordien) der gleichen Art“ erklärt werden.

- Charakteristisch für diese Missbildung ist die beiderseitige Längsfurchung des verwachsenen Stielanteils und die Ausbildung nicht verwachsener Hüte.

---> Nach dieser Definition muss man eine „Pseudofasciation“ verneinen. Und [1] bringt auch nur Beispiele in denen die unteren Stielteile verwachsen sind, die oberen, etwas nach außen gebogene Stielanteile und die Hüte nicht miteinander verwachsen sind.

Aber; die entscheidende Frage ist, ob [1] die gesamte Variabilität beschreibt???
---> Nach meiner Überzeugung NEIN

(1) Wir haben bereits ein Beispiel gesehen, bei denen es zu einer Hutverwachsung gekommen ist.

(2) Was ist, wenn (z.B. witterungsbedingt durch schnelle Streckung der Stiele) die Stiele sich nicht nach außen krümmen und es deshalb zu einem frühzeitigen, engem Kontakt der Hüte kommt?
---> M.E. werden dann die Hüte noch deutlich stärker verwachsen.

(3) Was ist, wenn die unteren Stielteile etwas länger miteinander verwachsen sind und ein „sehr dicker“ oder „spröder“ (dieses Beispiel) Stiel keine Chance hat , sich nach außen zu biegen, um einen Hutkontakt/eine Hutverwachsung zu vermeiden?
--> M.E. werden die Hüte noch stärker verwacghsen.

(4) Was ist, wenn die benachbarten „Primordien“ noch enger zusammenstehen und stärker als „typisch“ miteinander verwachsen sind?
---> Ich bezweifele, dass dann auch noch die „beiderseitige Längsfurchung“ (ist übrigens ansatzweise noch an der Stielbasis zu erkennen) sehr auffällig ausgeprägt ist.
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"Verbänderung"(Fasciation)
- Der Stiel ist hier sehr flach (nicht drehrund) bandartig nach oben verbreitert, ohne beidseitige Längsfurchung und es wird auch nur ein Hut (abartig deformiert) ausgebildet.
- Die Ursache ist unbekannt.
- Übrigens, mir ist hier nicht klar, ob diese Missbildung aus nur einer (dazu tendiere ich) oder zwei Fruchtkörperanlagen entsteht.

---> Es fällt mir nach dieser Definition, die vermutlich auch nicht die volle Bandbreite beschreibt, schwer das gezeigte Beispiel hier einzuordnen.
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Und jetzt lehne ich mich aus dem Fenster und hoffe, dass ich nicht runterfalle:

(1) Ich bewerte diesen Fund als eine „Extremform“ einer Verwachsung (Pseudofasciation).

(2) Mag sein, dass man den Fund auch bereits als untypische Verbänderung (Fasciation) bezeichnen kann.
---> Aber dann nicht ss. [1], soweit ich diesen Artikel korrekt verstanden habe.
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Jetzt stelle ich mir nur noch folgende Frage!!!

---> Könnte es sein, dass der gezeigte Fund „siamesische Zwillinge“ (aus einer Fruchtkörperanlage entstandene „Doppelfruchtkörper“) zeigt?

Meine Einschätzung/Bewertung:

---> Sehr unwahrscheinlich, da derartige „eineiige Zwillinge“ bei Pilzen mit Lamellen noch nicht nachgewiesen wurden.

Ich fasse einmal zusammen, was [1] berichtet:


„echte Zwillinge“ (Anm:: Könnte man als „eineiige Zwillinge“ bezeichnen), bei denen sich aus einer einzigen Fruchtkörperanlage Zwei Fruchtkörper entwickeln, die nicht zwingend miteinander verwachsen sein müssen.
- Derartige „Zwillinge“ (ja auch „Drillinge“ bis zu „Fünflingen“) wurden bisher nur bei Bauchpilzen beobachtet; z.B. Phallus impudicus (Stinkmorchel), Mutinus caninus (Gemeine Hundsrute), Clathrus ruber (Roter Gitterling)

---> Ursache derartiger Bildungsabweichungen sind Entwicklungsstörungen unbekannter Natur, die zu einer mehr oder weniger vollständigen Teilung einer einzelnen Fruchtkörperanlage (Primordium) führen.

---> Bei Pilzarten ohne eine den jungen Fruchtkörper umhüllende Außenhülle („Peridie“ oder „Velum universale“) ist eine derartige „Zwillingsbildung“ kaum nachweisbar. Aber es fällt auf, dass z.B. von volvatragenden Hymenomyzeten (Amanita, Volvariella) bisher keine derartige Zwillingsbildung bekannt wurde.


Grüße
Gerd

Literatur:

[1] (ID-05008): Michael - Hennig - Kreisel (1983): Handbuch für Pilzfreunde, Band V, S26:62
---> Eine "Goldgrube", die auch in den nachfolgenden Artikeln zitiert wird:

[2] (ID-00144): Krieglsteiner G. J. (1996): Bildungsabweichungen oder eigenständige Taxa ?, Beihefte zur Kenntnis der Pilze Mitteleuropas X
---> Eine hervorragende Ergänzung (mit Farbabbildungen) zu [1]


[3] (ID-04837): Staudt E. (2000): Voll daneben; Südwestdeutsche Pilzrundschau 36(2): 42-43
---> Zeigt und beschreibt eine beeindruckende "Morchel-ähnliche" Bildungsabweichung von "Laccaria amesthystina" (Violetter Lacktrichterling)

[4] (ID-06369]: Geiter R. (1997): Ungewöhnliche Bildungsabweichungen an Pilzen; Tintling 4:20-21
- Ich mache nur Bestimmungsvorschläge und keine Essensfreigabe.
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