Hallo Rebecca,
Herzlichen Dank für das Einstellen deines sehr aussagekräftigen Funds, das eine leicht erkennbare/zuordenbare „Missbildung“ zeigt.
Derartige Missbildungen werden in der Literatur als
"Prolifikation" [1] oder
“Proliferation“ [2] (deutscher Ausdruck ist mir unbekannt) bezeichnet.
- Man versteht (vergl. [1]) darunter exzessive Bildungen von Hymenophoren bei Hutpilzen, bei denen man folgende „grobe“ Einteilung unterscheiden kann:
(a)
Pleurotoide Prolifikation:
---> Lappig-gekräuselte Aufgliederungen des Hutrandes. Der Hutrand wird dabei in zahlreiche, seitlingsförmige, sich teilweise überlappende Teilhütchen (mit geotropisch zum Erdboden gerichteten Lammelen/Leisten) aufgegliedert
(b)
Inverse Prolifikation:
---> Als Bildung von Lamellen auf dem Hut. Dabei werden meist am Hutscheitel (seltener am Hutrand) auf dem Rücken liegende(resupinate) kleine, stiellose Hütchen entwickelt, deren mitunter gekräuselte und/oder netzartig anastomosierende Lamellen/Leisten schräg oder senkrecht nach oben zeigen.
(c)
Morchelloide Prolifikation :
---> Der Extremfall, bei dem die gesamte Hutoberfläche von mannigfach (gekräuselt, lappig oder wabenartig vernetzt) deformierten Hymenophoren überwachsen iwird. Der Hut wird so weit nach unten gebogen, dass er eine +-Kugelform annimmt und sein Rand den Stiel berührt.
- Allem Anschein nach sind die genannten Prolifikationstypen nicht prinzipiell verschieden, da häufig auch Zwischenformen beobachtet wurden.
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Dein Bild zeigt eine sehr typisch ausgeprägte „Inverse Prolifikation“.
@ Harry:
-Vergleiche bitte die Bilder deines
LINKS (a) mit den hier vorgestellten(b).
---> Dann wirst du schnell folgende Unterschiede sehen:
(a) Man sieht einen deutlichen „Stielansatz“ eines abgebrochenen Stiels.
(b) Einen „Stielansatz“ kann man nicht einmal andeutungsweise erahnen.
- Und deshalb kann man den Fund von REBECCA nicht als "Doppelfruchtkörper/Dreifachfruchtkörper", z.B. Stockwerkspilz, Verwachsung (Pseudofasciation) (*), bezeichnen.
(*) Bei diesen Missbildungstypen sind die Einzelfruchtkörper immer +-normal in Hut, Fruchtschicht und Stiel (kann auch abgerissen sein) gegliedert.
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- Über die Ursache herrscht Unklarheit. [1] Es werden folgende Ursachen diskutiert:
(1) Gendefekt oder Virusbefall
- Begründet wird diese Annahme damit, dass im Labor bei bestimmten Myzelien oder Kulturstämmen jahrelang diese Missbildung beobachtet wurde.
---> Ja, m.E. ein nachvollziehbares, überzeugendes Argument
(2) Witterungseinflüsse
- Z.B plötzlich einsetzende Regenfälle im Spätherbst, die eine randliche Wiederbelebung des Wachstums bereits vorhandener Fruchtkörper auslösen.
---> Dazu habe ich etwas in meiner Literatur gefunden:
[3] zeigt eine "morchelloide Prolifikation" eines Fruchtkörpers, der sehr stark an eine Morchel, Lorchel erinnerte und durch mikroskopische Bestimmung sich als Violetter Lacktrichterlings (Laccaria amethistrina) entpuppte. Er berichtet über seinen Versuch, diesen Fruchtkörper über Nacht für A. Bollmann zu retten und legte den Fruchtkörper "auf feuchtem Papier in einer Plastikdose in den Kühlschrank".
---> Doch oh Wunder: Der Fruchtkörper hatte sich über Nacht zu einem "+-normalen Lacktrichterling" umentwickelt. Dies würde die These stützen, dass es evtl. doch Umwelteinflüsse sind, die eine derartige Missbildung verursachen.
Mein Fazit: Das Beispiel zeigt m.E., dass durchaus auch „Witterungsbedingungen“ eine Rolle spielen können.
---> Und das Besondere (weitere Literaturhinweise kenne ich nicht) ist, dass „witterungsbedingt“ derartige Missbildungen sogar rückgebildet werden können.
Mein Fazit:
(a) Die „Schublade“, in die man diese Bildungsabweichung ablegen muss ist m.E. zweifelsfrei/eindeutig.
(b) Über den Grund der Missbildung kann ich nicht einmal spekulieren.
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Derartige Missbildungen scheinen nicht sooo selten zu sein. Nachfolgend eine kleine Auswahl, bei der man schön nachvollziehen kann, dass die Ausprägung einer „Prolifikation“ sehr unterschiedlich sein kann:
(a) Eine sehr ähnliche Missbildung einer Marone:
viewtopic.php?p=14286#p14286
(b) Eine extreme, als
"Morchelloide Prolifikation" bezeichnete Missbildung des Hutes:
viewtopic.php?p=14095#p14095
viewtopic.php?p=14086#p14086
(c) Übergänge zwischen "inverser (negativ geotropischer) Hutbildung" und "morchelloider Bildung":
viewtopic.php?p=14581#p14581
viewtopic.php?p=15101#p15101
viewtopic.php?f=34&t=3593
(d) Gleich mehrere, unterschiedliche Missbildungen auf einem Fruchtkörper:
viewtopic.php?p=14720#p14720
(e) Ähnliche, aber anders einzuordnende Missbildungen:
viewtopic.php?p=14818#p14818
Liebe Grüße
Gerd
Literatur:
[1] Michael - Hennig - Kreisel (1983): Handbuch für Pilzfreunde, Band V, S26:62; Abb. 108-124
[2] H. Dörfelt/ G. Jetschke (Hrsg.): Wörterbuch der Mycologie Spektrum Akademischer Verlag (2001)
[3] Krieglsteiner G. J. (1996): Bildungsabweichungen oder eigenständige Taxa ?, Beihefte zur Kenntnis der Pilze Mitteleuropas X
[4] Staudt E. (2000): Voll daneben; Südwestdeutsche Pilzrundschau 36(2): 42-43
[5] Geiter R. (1997): Ungewöhnliche Bildungsabweichungen an Pilzen; Tintling 4:20-21